Gibt es die eine christliche Moral? Wie verbindlich müssen, wie offen dürfen christliche Werte sein? In ethischen Diskussionen spielen diese Fragen eine entscheidende Rolle.
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Als Christ sollte man kein Fleisch essen«, findet der eine. »Die Bibel erlaubt es mir durchaus, Fleisch zu essen«, meint die andere. »Als Christ sollte man keine Organe spenden, weil das Leben unverfügbar ist«, glaubt der eine. »Organe zu spenden ist ein Akt der Nächstenliebe und Christenpflicht«, findet die andere. Alles zugleich christlich? Spätestens bei Fragen um Familie oder Sexualität scheiden sich die Geister endgültig.
Nicht was man tut oder lässt, sondern wie man mit moralischen Zwickmühlen umgeht, kennzeichne christliches Handeln, meint Johannes Fischer, emeritierter Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich. Entscheidend sei, in welchem Geist eine Handlung vollzogen wird – für Christen sollte dies der Heilige Geist sein. Dieser setze dabei zwar Grenzen fest, innerhalb derer sich jedoch ein großer moralischer Spielraum eröffne, schreibt der Theologe. »Dies ist deshalb zu betonen, weil es in Zeiten der Verunsicherung, wie sie die Kirche gegenwärtig erlebt, eine Versuchung gibt, das christliche Profil am Was festzumachen, am eindeutigen Standpunkt in strittigen moralischen Fragen.«
Diesen eindeutigen Standpunkt gebe es aber im Christentum nicht, so der Züricher Professor, vielmehr eine in ihm angelegte grundsätzliche Offenheit für einen moralischen Pluralismus. Das christliche Ethos sei nicht mit einer bestimmten Moral identisch. »Stattdessen sollte sich die Kirche zum Anwalt des Pluralismus machen, in den Grenzen, die vom christlichen Ethos her zu ziehen sind.« Zwar seien die biblischen Normen wichtig und verbindlich, um vor Abstumpfung zu schützen, maßgeblich für eine moralische Entscheidung aber sei der Geist.
Auch Paulus spricht den Christen der Gemeinde in Philippi ein Urteilsvermögen jenseits eines schlichten Abgleichs mit dem Wortlaut der Schrift zu: »Und ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, so dass ihr prüfen könnt, was das Beste sei« (Phil 1,9). Die Liebe aber ist Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22).
Doch geht es nicht auch bei ethischen Fragen um Wahrheit? Wie kann denn der Geist unterschiedlichen Menschen etwas Unterschiedliches eingeben? »Schwärmerei!«, würde Luther vielleicht rufen.
Jörg Michel, Studienleiter der Evangelischen Akademie Meißen, ist der Meinung, dass der Geist beim Verstehen der Bibel und bei der Gewissensbildung zwar eine wichtige Rolle spielt, doch nur ein Zusammenspiel von Schrift, Gewissen, Vernunft, allgemeinem Sittengesetz und Heiligem Geist könne zu einem differenzierten ethischen Urteil führen. Grundsätzlich gelte dabei aber, dass dem Menschen durchaus von Gott mitgeteilt sei, was gut ist (Mi 6,8). Dieser Wille Gottes sei durch Jesus Christus offenbart und in der Heiligen Schrift niedergeschrieben, daher auch verbindlich, sagt der Biologe und Ethiker. »Eine Menschheit, die fast atemlos ihre Autonomie zu steigern sucht, gewinnt durch christliche Werte eine moralische Basis, eine Bodenhaftung, die Tragfähigkeit leistet«, so Michel. Diese verlässliche Basis mache auf eine gute Art und Weise frei und fördere Entwicklung.
Doch wie umgehen mit moralischen Uneinigkeiten, dem mehrstimmigen Wertekanon, der bereits in der Bibel zu finden ist? Wie harmonisch kann und muss dieser Kanon sein? Diese Fragen gilt es immer wieder neu zu beantworten.
Am Ende bleibt es entscheidend, die eigene Wahrheit nicht als letztgültig zu betrachten, sondern, wie Dietrich Bonhoeffer es formulierte, »fest mit der Wirklichkeit des Offenbarungswortes Gottes« zu rechnen, sich hinterfragen zu lassen – ob durch Geist oder Schrift.
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